Charkiw. Chronik des Angriffs auf die Stadt, der 18. Tag (13.03.2022)

Heute hörten die Moskowiter abends nicht auf, sie feuerten immer noch mitten in der Nacht ab, für einen Nachtbeschuss ziemlich viel. Der Beschuss ging am Morgen weiter, aber nicht so aktiv wie gestern. Saltiwka, Oleksijiwka, Horizont, Rohan, Traktorwerk, Nowi Budynky, Pjatychatky, die Luftfahrthochschule wurden beschossen. Angeschlagen wurden auch Derhach und Tschuhujiw. Am Morgen wurde eine Person getötet und drei weitere verletzt, der Supermarket ATB und eine nahe gelegene Apotheke wurden durch den Beschuss einer O-Bushaltestelle im östlichen Teil des Stadtbezirks Traktorwerk beschädigt. Tagsüber wurde Welyka Danyliwka beschossen, ein 1963, d.h. bei der letzten im 20. Jahrhundert größeren Stadterweiterung eingemeindetes Dorf mit Einfamilienhäusern. Auf Welyka Danyliwka wurde aus einem Mehrfachraketenwerfersystem gefeuert, wodurch viele Häuser zerstört wurden.

Im Allgemeinen verlief der Tag eher ruhig, obwohl vorsorglich ständig die Warnungssirene ertönte. Am Abend wurden Schweinehunde in vollem Ernst aktiv, und am meisten haben wieder Saltiwka Nord und Saltiwkas Wonhbezirke abgekriegt.

Abgesehen von den am stärksten vom Beschuss betroffenen und sehr stark zerstörten Stadtteilen sowie der Innenstadt, wo nach Raketen- und Luftangriffen viele Gebäude zerstört sind (die Ruinen des Gebäudes der Regionalen Staatsverwaltung, das übrigens ein Architekturdenkmal ist, werden seit dem 1. März immer noch abgebaut, was vom sehr großen Ausmaß der Zerstörung zeugt), lebt der Rest der Stadt ruhig, obwohl die Explosionen tatsächlich in der ganzen Stadt sehr gut zu hören sind. Charkiw hat einen radialen Aufbau, was das Eindringen des Schalls in alle Richtungen ermöglicht. Es mangelt an öffentlichen Verkehrsmitteln, generell fällt auf, dass es sehr wenig Fahrzeuge auf den Straßen gibt. Das erschwert offensichtlich die Fortbewegung in der Stadt.

Charkiw, Die erste Realschule nach dem Beschuss des „Maidans der Helden von Himmlischen Hundert“. Foto: Natalia Zubar
Charkiw, Die erste Realschule nach dem Beschuss des „Maidans der Helden von Himmlischen Hundert“. Foto: Natalia Zubar

Durch den Beschuss des Stadtzentrums wurde die größte Bibliothek der Ostukraine, die Staatliche Wissenschaftliche Korolenko-Bibliothek beschädigt: Das Gebäude selbst erlitt Schaden von außen, Fenster sind angeschlagen, einige Möbel und ein alter Flügel zerstört. Die Bücher sind in Ordnung, aber sie erfordern eine spezielle Lufttemperatur, ohne die einige von ihnen starke Beschädigungen erleiden können. Daher bittet die Bibliothek um Hilfe. Auch im Blindeninternat (in der Nähe des Gebäudes der Regionalen Staatsverwaltung) ist die wertvolle Bibliothek in Blindenschrift in Gefahr und muss umgehend gerettet werden.

In der Stadt funktionieren Geschäfte der größeren Ketten und Supermärkte. Kioske und kleine Läden sind geschlossen. Wo es keinen Strom gibt, geht natürlich gar nichts. Daher müssen diejenigen, die dort noch geblieben sind, mehrere Kilometer in eine Richtung gehen, um zu den offenen und intakten Supermärkten zu gelangen. Die Lebensmittelversorgung der Stadt hat sich im Prinzip normalisiert, obwohl alles auf die Supermarktkette ankommt (die kleineren haben weniger regelmäßige Lieferungen, so wird dort alles sofort ausverkauft, und wo was noch zu kaufen gibt, erfährt man durch Mundpropaganda). In den Stadtteilen, die unter Beschuss stehen, ist das Angebot kleiner und die Warteschlangen länger. Zudem stehen unter Beschuss ausgerechnet die Stadtteile mit der höchsten Bevölkerungsdichte.

Die Menschen stellen sich für humanitäre Hilfe an, und die Warteschlangen können ziemlich groß sein. Etwas zu bekommen, wenn man sich nicht vorzeitig angestellt hat, ist fast aussichtslos. Wenn man nach dem Einkaufen heim geht, wird man häufig gefragt, wo es Hilfsgüter gibt… Warteschlangen und humanitäre Hilfe – dies gehört zum heutigen Alltag der Stadt, wir scheinen in die Zeit vor über 30 Jahren zurückgeworfen werden, in die Sowjetzeit…
Allerdings gibt es auch etwas Positives: manchenorts, meistens in den nicht beschossenen Einkaufszentren, öffnen auch andere Geschäfte – für Kleidung, Geschirr, elektronische Geräte usw. Das Leben verbessert sich allmählich. Die durch den Krieg zerstörte Logistik baut sich wieder auf.

In der Region ist jedoch nicht alles gut. Die Situation in Isjum bleibt nach wie vor sehr schwierig – es gibt heftige Kämpfe. Die Gasverteilerstation wurde dort beschädigt. Es ist unmöglich, die Menschen aus der total zerstörten Stadt zu evakuieren. Unmöglich ist es auch, humanitäre Hilfsgüter in die Stadt zu liefern. Bei Minustemperaturen blieb die Stadt ohne Strom, Wärme, Wasser, Nahrung und Medizin. Wie die Lage genau ist, kann man nicht ermitteln, denn es gibt große Probleme mit Kommunikation.

Die Moskowiter schossen auf einen der Betriebe der Schehebelynskyj-Gaslagerstätte, was einen Brand in der Gasaufbereitungsanlage im Dorf Hlasuniwka verursachte. Der Operationssaal wurde komplett zerstört. Wie durch ein Wunder wurde niemand getötet, weil die Brigade gerade eine Raucherpause machte, aber ein Mitarbeiter wurde verletzt. Die Explosion beschädigte Häuser im Nachbardorf Milowa, das erst vor wenigen Tagen von russischen Invasoren beschossen wurde… Die Einwohner der umliegenden Dörfer wurden in die Stadt Perwomajskyj evakuiert. Übrigens sind dort bereits mehr als Eintausend Menschen evakuiert worden, obwohl die Stadt nicht weit von der imaginären Frontlinie entfernt ist.

Ebenfalls wurde das Dorf Nowyj Korotytsch gestern beschossen, das direkt neben dem zerbombten Flugplatz „Korotytsch“ liegt – ein Mann wurde getötet, einige Gebäude sind beschädigt. Und heute kam während des Beschusses von Pjatychatky ein Mitarbeiter des „Feldman-Ökoparks“ ums Leben, der gekommen war, um Tiere zu füttern. Es gibt auch tote Tiere – sowohl durch den Beschuss als auch wegen des damit verbundenen Stresses.
Die Stadt Tschuhujiw, in die Invasorentruppen einzudringen versuchten, ist für eine „geschlossene“ Stadt erklärt, um Infiltration russischer Sabotagegruppen zu verhindern: Ohne lokale Anmeldung oder Bestätigung, dass man humanitäre Hilfe begleitet, darf niemand in die Stadt.

Immer gefährlicher wird die Situation bei Lyman und Slowjansk: Bei Brusyn (in der Nähe von Lyman) wurde ein Evakuierungszug beschossen, der Menschen aus Lyman abholen sollte. Eine Schaffnerin wurde getötet und noch eine verletzt. Dies ist jedoch kein Einzelfall, dass Evakuierungsmissionen beschossen werden – die Evakuierungsgruppe aus Mariupol ist nach dem Beschuss in dem von Moskowitern besetzen Berdjansk geblieben, es soll dort Tote und Verwundete geben.

Die Moskowiter feuerten übrigens ihre Raketen auf das Höhlenkloster Swjatohorsk der russisch-orthodoxen Kirche ab. Das Gebäude des Klosterkomplexes ist beschädigt, Fenster und Türen in einigen Gebäuden eingeschlagen. Im Jahr 2014 war dieses Kloster während der Besetzung von Slowjansk und Kramatorsk ein Stützpunkt für Russen und Separatisten: Dort waren Waffen gelagert, was russisch-orthodoxe Priester und Mönche unterstützten. Nun versetzt die RuSSenwelt der RuSSenwelt einen schmerzhaften Schlag. Ein „friendly fire“ aus dem Moskowiterland „mit Liebe und Herzlichkeit“!

Plünderungen und Gräueltaten dauern an. Eine Familie mit einem dreijährigen Kind, die Balaklija verlassen wollte, wurde vom Russenpöbel brutal erschossen. Und im Dorf Petriwske (benannt nach der St. Peter-Festung der ukrainischen Linie) der Stadtgemeinde Balaklija brachen die Besatzer ins Krankenhaus und in die Notaufnahme ein und klauten dort wertvolle medizinische Geräte und eine Autobatterie. Den Rest der Ausrüstung und des Gebäudes demolierten sie.

In den besetzten Gebieten von Cherson, Luhansk und Saporischschja ist die Situation nicht besser: Die Invasoren schlagen die Zivilisten auf der Straße und beschlagnahmen auf Nimmerwiedersehen Autos und andere Wertsachen. Bereits der zweite Bürgermeister in der Region Saporischschja ist verschwunden – diesmal der Bürgermeister von Dniprorudny Jewhen Matwejew sowie der Vorsitzende des Bezirksrates von Melitopol Serhij Pryma.
Stadträte von Cherson schlossen sich den Abgeordneten des Regionalrats von Cherson an und schickten Moskauer in die wohl vertraute Richtung – „nachuj!“ Erfreulicherweise gehen die Proteste und der Widerstand in Cherson und Melitopol weikter. Die Menschen sind in diesen Städten wirklich cool; das sind ohne Übertreibung echte Helden, die im gewaltlosen Widerstand gegen das Besatzungsregime kämpfen. Sie lassen sich nicht durch Soldaten und Maschinengewehrfeuer einschüchtern!

Aber leider verschwindet die Verbindung zu vielen neu besetzten Städten und Dörfern. Und es ist schwierig, Informationen von dort zu bekommen. In Metilopol erklärte die lokale „Gauleiterin“ der Besatzungsverwaltung Galina Daniltschenko von der prorussischen Partei „Oppositionsplattform für das Leben“, dass alle sich der neuen Macht unterwerfen sollen. Sie ließ russische TV-Sender einschalten und erklärte, das sei jetzt die neue Realität und Wahrheit. Und in Nowa Kachowka hat man niemanden für den Gauleiter-Posten gefunden, daher wird die Besatzungsmacht durch den russischen Militärkommandanten der Stadt vertreten.
Zweifellos positiv ist die Nachricht über die Nominierung des Charkiwer Dichters, Schriftstellers, Musikers, Sängers und Freiwilligen Serhiy Zhadan für den Literaturnobelpreis. Zhadan ist unser Star!

Heute wird der Darwin-Preis an die Kampfmannschaft des russischen Flugabwehrraketensystems „Tor“ verliehen, die in der Nähe von Charkiw ein „friendly fire“ auf eigenes, zur Aufklärung der Positionen ukrainischer Soldaten eingesetztes unbemanntes Kampfflugzeug eines nicht identifizierten Modells, abgefeuert hatte. Dabei meldeten die Moskowiter, dass sie ein ganzes Bayraktar abgeschossen hätten, aber bei der Nachflugbesprechung kam die Wahrheit heraus, und wurde beschlossen, sie zu verheimlichen. Was für eine traurige Nachricht! Wir würden uns noch mehr solche Nachrichten wünschen!
Wir danken den Ukrainischen Streitkräften, der Nationalgarde, Territorialverteidigung, Freiwilligen, Medizinern, Rettern und Mitarbeitern der kommunalen Versorgungsunternehmen. Wir unterstützen sie und einander. Wir haben Selbstvertrauen, und jeder von uns tut an seinem Platz tun sein Bestes für den kommenden Sieg!

Über Сергій Петров 248 Artikel
історик, аналітик Інформаційного Центру "Майдан Моніторинг" (сайт "Майдан"), громадський активіст, редактор української Вікіпедії