Charkiw. Chronik des Angriffs auf die Stadt, der 25. Tag (20.03.2022)

Seit einigen Tagen änderten die Moskowiter ihre Taktik: statt des intensiven Morgenbeschusses der Wohnviertel sind sie nun abends aktiv geworden. Nicht, dass es morgens keinen Beschuss gibt, aber seine Intensität ist nicht so stark wie am Abend. Tagsüber ist relativ oder fast ruhig (je nach dem Stadtteil).

Foto: Ein Krankenhaus in Charkiw; Architekturdenkmal Rotes-Kreuz-Spital. Autor: Serhij Petrow

Hauptsächlich wurden Saltiwka Nord und Saltiwka Wohnhäuser, Welyka Danyliwka, Oleksijiwka, Pawlowe Pole, Horizont, Rohan und Traktorwerk beschossen. Generell ist der Beschuss heute stärker als gestern. Betroffen sind auch Siedlungen Derhatschi, Tschuhijiw und andere Vororte nördlicher und nordwestlicher von der Stadt. Leider gibt es Tote und Verwundete sowie zerstörte Häuser (sowohl Einfamilienhäuser als auch Hochhäuser), Schulen und andere zivile Infrastruktur. Durch den Beschuss werden auch historische bzw. alte Gebäude ständig beschädigt oder ruiniert.
Charkiw leistet schon über drei Wochen Widerstand den Invasoren. Immer mehr Versorgungsnetze sind nun außer Betrieb. Einige Stadtteile werden nur stundenweise mit Wasser versorgt. Warmwasser fällt komplett aus. In den Stadtbezirken, die unter Beschuss stehen, gibt es keine Heizung. Wegen Beschädigungen gab es heute Wasserprobleme in vielen Stadtteilen. Mancherorts gibt es seit Wochen kein Wasser, mancherorts seit Tagen, an anderen Stellen gab es heute den ganzen Tag kein Wasser. Die Situation ist von Stadtteil zu Stadtteil unterschiedlich.
Wer das alles psychisch nicht aushält, reist aus. Viele meiner Bekannten haben das getan. Und das ist richtig so, denn während des Krieges ist das Wichtigste – wenn du nicht arbeiten oder sonst nützlich sein kannst – zu überleben. Und das fällt an einem wenigstens relativ ruhigen Ort viel leichter. Es ist wichtig, psychisch stabil zu bleiben. Deshalb werden die Menschen auch weiterhin ausreisen, und wenn es so weiter geht, so bleiben in Charkiw in einem Monat ca. 25-35% der Bevölkerung von Mitte Februar. Das ist eine objektive Realität und ganz normal.
Diejenigen unter meinen Freunden und Bekannten, die freiwillige Helfer sind, bleiben in der Stadt und leisten ihren Beitrag zu unserem Sieg. Die meisten von der Charkiwer Wiki-Gemeinde sind übrigens auch geblieben. Nicht alle können natürlich in solchen Bedingungen Wikipedia lektorieren, aber die Hauptsache, wir unterstützen einander in dieser schwierigen Zeit. Trotz allen Lebensschwierigkeiten ist die Stimmung in Charkiw ganz normal. Die Bürger sind mutig und lassen sich nicht aus Bahn schlagen. Und der Hass den Russen gegenüber wächst.
Man kämpft gegen Plünderer und diejenigen, die Waren ohne entsprechende Begleitpapiere verkaufen. Aktive Bürger helfen dabei.
Im Ökopark Feldman sind viele Tiere tot, einige, wie zum Beispiel Edelhirsche, sind nach der Zerstörung der Gehege in die Wälder gelaufen. Die Verwaltung des Öko-Parks bittet sie nicht abzuschießen, weil sie in der wilden Natur durchaus überlebensfähig sind. Einige andere Tiere wurden in Sicherheit gebracht.
Isjum befindet sich weiter unter Beschuss, in dieser schwierigen Situation ist es unmöglich, humanitäre Hilfe in die Stadt zu bringen und Menschen aus der Stadt zu fahren. Jetzt hat Isjum auch eigenes „Tschornobajiwka“ – sobald die Moskowiter sich bei einem der Kontrollpunkte verschanzen wollen, werden sie von unserem Militär zerschlagen. In den besetzten Balaklija und Kupjansk ist die Lage auch sehr schwierig.
Der Versuch, einen humanitären Korridor nach Wowtschansk zu organisieren, scheiterte, dazu noch wurde die Verbindung mit sechs Personen abgerissen: mit fünf Ärzten und einem Fahrer. Offensichtlich sind sie zu Geiseln der Raschisten geworden. Die können unsere Soldaten nicht gefangen nehmen, deshalb nehmen sie zivile Personen als Geisel – solche Praxis ist für terroristische Staaten und terroristische Völker typisch. Misslungen ist der Versuch, humanitäre Güter ins Dorf Mala Rohan in der Nähe von Charkiw zuzustellen. Im Dorf haben sich die Orks verschanzt, dort herrschen Plünderungen, Vergewaltigungen und andere „Tugenden“ der „ruSSischen Welt“.
Humanitäre Fracht wurde in die Siedlung Rohan geliefert, die, wie auch andere Wohnorte der Dorfgemeinde Rohan unter Beschuss leidet. Es ist zu bemerken, dass es im südlich-östlichen Vorort Charkiws Stadtviertel Rohan gibt, und ich habe gerade über Siedlung Rohan, die sich auf der Straße Charkiw-Tschuhujiw befindet und unter ukrainischer Kontrolle ist, geschrieben.
In Kreminna im Luhansk Gebiet hielten Raschisten das hiesige Altersheim unter Panzerbeschuss – die Nazis haben ihrerzeit auch alle vernichtet, die sie für minderwertig hielten – Psychiatriepatient_innen, Juden, Roma und ähnliche Menschengruppen. Die Raschisten sind noch perverser, sie halten für „minderwertig“ alte und schwache Menschen. Der Raschismus muss bestraft und ausgerottet werden!
Ungeachtet der Festnahmen und Schießereien dauern Proteste der Einwohner der besetzten Städte in Gebieten Charkiw und Saporischschja gegen die Moskowiter weiter. Die Menschen demonstrieren ihren Heldenmut, indem sie einen gewaltlosen Widerstand leisten. Cherson, Kachowka, Enerhodar (wo stellvertretender Bürgermeister gekidnappt wurde), Berdjansk – ihr seid großartig!!
Endlich wurde die Tätigkeit mehrerer prorussischen Parteien in der Ukraine suspendiert. Und das ist meiner Meinung nach gut. Die Mitglieder dieser Parteien haben demzufolge eine Wahl: entweder verlassen sie ihre Partei jetzt oder sie bekommen Probleme später. In einem – zwei Jahren werden diese Parteien vollständig marginalisiert. Das bedeutet in der Perspektive ein Ende für jegliche prorussische Bewegungen in der Ukraine. Und das ist zweifellos gut. Außerdem werden die Entkolonialisierungsprozesse nach dem Start in Charkiw auch in anderen ukrainischen Städten immer aktiver – in Saporischschja, Uzhhorod und anderen. Ich würde gern wissen, wann die Entkolonialisierungsprozesse in Kyiw aktiver werden?? Und wann die Eisenbahnlinien umbenannt werden (wie etwa die Südbahn, die Süd-Westliche Bahn), deren Namen ihnen noch in Zarenzeiten entsprechend der geographischen Lage bezüglich Imperiumszentrums verliehen wurden??
Darwin-Preis wird heute Olezhka Tsarjow zuerkannt, der die Stadt Krywyj Rih aufforderte, sich zu ergebenб und den Oleksandr Wilkul, der plötzlich ein großer ukrainischer Patriot geworden ist, hinter dem russischen Militärschiff geschickt hat, zum Teufel. Wir leben wahrhaft in interessanten Zeiten, oh ja)))
Wir danken unserem Militär, das Charkiw und Charkiwer Ballungsgebiet verteidigt, für einen weiteren Lebenstag. Unterstützen wir unser Militär, Freiwillige, Mediziner, Mitarbeiter_innen der Rettungs- und Kommunaldienste, Energietechniker. Halten wir fest. Alles wird Ukraine sein!
Serhij Petrow

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історик, аналітик Інформаційного Центру "Майдан Моніторинг" (сайт "Майдан"), громадський активіст, редактор української Вікіпедії