Charkiw. Chronik des Angriffs auf die Stadt, der 55. Tag (19.04.2022)

Noch ein alles andere als einfacher – wegen des intensiven moskowitischen Beschusses – Tag für Charkiw und seine Einwohner. Schon wieder ein Massenbeschuss eines Wohnviertels mit reaktiven Artilleriemitteln. Als Ergebnis – Tote und mehrere Verwundete. Doch Charkiw hält die Abwehr und lebt sein Leben weiter.

Die Quantität des raschistischen Beschusses ist im Allgemeinen hoch. Die Nacht vom Montag auf Dienstag war schwer, es wurde in mehreren Stadtvierteln geschossen. Am Nachmittag beruhigte sich der Beschuss in einigen Wohnquartieren, es gab aber Bezirke, wo der Beschuss, wenn auch weniger intensiv, weiter dauerte. Gegen Abend stieg die Beschussintensität an. Besonders aktiv haben die Besatzer verschiedene Saltiwka-Teile beschossen, sowie Stadtteile Horizont und Charkiwer Traktorenwerk. Einiges vom Beschuss zu spüren bekamen auch die Siedlung Schukowskyj, Pjatychatky und Oleksijiwka. Um Mittagszeit gab es einen Treffer in Ost-Saltiwka aus einem Raketenwerfer: vier Personen sind tot, 26 verletzt, über zehn Häuser sowie Privatgaragen, ein Geschäft und einige Autos beschädigt.

Auf dem Bild: Die Beschussfolgen in Saltiwka. Foto: Die Hauptverwaltung des Staatlichen Dienstes für die außerordentlichen Situationen in Charkiw Gebiet, CC BY 4.0.

Fortgesetzt wird auch der moskowitische Beschuss in den Vororten der Stadt: in der Stadtgemeinde Derhatschi und in Derhatschi selbst sowie auf der Tschuhujiw-Richtung. Energie- und Gastechniker in Derhatschi versuchen die beschädigten Kommunikationen zu reparieren und die in der Gemeinde gebliebenen Menschen mit Gas und Strom zu versorgen.

Da der Beschuss jeden Tag in verschiedenen Stadtteilen geführt wird und dadurch mehrere Personen getötet oder verletzt werden, bittet die Stadtverwaltung die Charkiwbewohner in ihren Deckungen zu bleiben und sie nur im Notfall zu verlassen.

Nach Angaben des Charkiwer Stadtrat sind infolge des moskowitischen Beschusses und der Fluganschläge 1929 Wohnhäuser beschädigt bzw. zerstört. Das ist beinahe ein Viertel von gesamter Wohnbausubstanz der Stadt. Die Zahl erschüttert, aber leider wird es nicht einmal bei der Zahl bleiben, es kommen immer neue Beschädigungen hinzu. Andererseits wird gerade gemeinsam mit dem britischen Architekten Norman Robert Foster ein neuer Masterplan für Charkiw entwickelt. Ich finde die Idee sehr gut, habe allerdings folgende Meinung: historische Gebäude und architektonische Denkmäler, vor allem die im Stadtzentrum, sollten erhalten und wiederaufgebaut werden, die neuzubauenden Gebäude sollte man dem architektonischen Gesamtstil der Innenstadt anpassen.

Es gibt folgende gute Nachricht: in Charkiw sind Paramedics aus den USA eingetroffen, die große Erfahrungen in Irak und Syrien gesammelt haben. Sie kommen in die Ukraine mit Medikamenten für Feldhospitäler und werden hier ukrainische Paramedics weiterbilden und beraten.

Immer noch nicht beendet ist die Evakuierung der Tiere aus dem Feldmann-Ökopark. In einem der Parkräume hat man zwei Leichen entdeckt: zwei Mitarbeiter haben im März den Ökopark nicht verlassen, um die zurückgebliebenen Tiere zu füttern. Sie wurden von den raschisten ermordet und in einem Raum verbarrikadiert.

Bei der Stadt Isjum und auf Barwinkowe-Richtung dauern Kämpfe. Tapfere Streitkräfte der Ukraine halten den Andrang der moskowiter an und lassen sie nicht zum Durchbruch übergehen. Gleichzeitig aber sind die Besatzer bereits zehn Kilometer von Lyman im Donetsker Gebiet entfernt. Das ukrainische Militär hat im Charkiwer Gebiet schon wieder einen Hubschrauber Ka-52 abgeschossen. Aus den Städten Barwinkowe und Losowa werden weiter Menschen evakuiert. Stadtwerke in Losowa tragen alles Mögliche dazu bei, dass die Stadt funktionieren kann.

In besetzten Orten des Charkiwer Gebiets ist die Lage sehr schwer. Die Besatzer haben in der Gemeinde Welykyj Burluk alle Nebenstraßen, Straßenränder, Waldgürtel, unbefestigte Straßen, Wälder und Felder vermint, damit Freiwillige den Bewohnern die humanitäre Hilfe nicht bringen können. Auch Freizügigkeit der Einheimischen über die Hauptstraßen wird von den raschisten eingeschränkt. In der Siedlung Borowa im Südosten des Charkiwer Gebiets haben die moskowiter eigenen Kommandanten ernannt. Sein Name ist Sergej Rasdorozhnyj. Google identifiziert ihn als Leiter der Militärkommandatur in der moskowitischen Stadt Nowosibirsk. Nach den Plänen der Besatzer soll Borowa an die sogenannte „Luhansker Volksrepublik“ angeschlossen werden. Die Basatzer haben die humanitäre Hilfe für Borowa beschlagnahmt. In der Dorfgemeinde Borowa gibt es keine Funkverbindung, es mangelt dort an Lebensmitteln, außerdem ist der Ort mit Check-Points umstellt, durch die man in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete nicht kommen kann. Der einzige offene Weg ist die Richtung nach moskowien. Raschisten behandeln die Einheimischen sehr brutal und plündern ihre Häuser.

Schwere Kämpfe werden in der Operationszone der Vereinten Kräfte (OOS) entlang der gesamten Frontlinie geführt. Im Norden der Operationszone kämpft man um Rubischne, Popasna und auch bei Kreminna. Diese Städte sowie Sjewerodonetsk und Lysytschansk werden beschossen. Auch bei Awdijiwka und Marjinka wird gekämpft. Sturmversuche der moskowiter werden von unserer Abwehr angehalten, wir zwingen die moskowiter dazu, an ihre Ausgangspositionen zurückzutreten. Mit Raketen wurde auf die Stadt Kramatorsk gefeuert – ein Mensch kam uns Leben, drei Personen sind verwundet. Kämpfe werden auch in der Gegend von Wugledar, Welyka Nowosilka im Donetzk Gebiet und in der Gegend von Hulajpole im Saporischschja Gebiet geführt. Die Anschläge auf Hulajpole haben eher Hilfscharakter, denn die raschisten tasten sich überall herum, um schwache Stellen in der ukrainischen Defensive zu entdecken.

In einer sehr schweren Lage befindet sich Mariupol, wenn auch seine heldenhaften Verteidiger sich halten. Das Werkgelände von Asowstahl wird bombardiert, das Werk wird aus allen möglichen Waffen beschossen. Asowstahl ist zum Versteckort von über Tausend Frauen und Kindern geworden, die leider immer weniger Eßmittel haben.

Die moskowiter versuchen ihre Macht auf den zeitweilig okkupierten Territorien des Südens der Ukraine aufzubauen. So haben sie im Ort Rosiwka einige Dutzende der Rentner:innen zu einer Quasi-Versammlung zusammengebracht, bei der sie für das „Anschließen“ des Rosiw-Bezirks (einen solchen gibt es übrigens seit 2020, als die administrative Regionalteilung reformiert wurde, nicht mehr) an die unter der moskowitischen Kontrolle stehende „Donetzker Volksrepublik“ „gestimmt“ haben. In Enerhodar haben die moskowiter zum Direktor des Stadtgymnasiums den ehemaligen Elektriker im Kernkraftwerk Saporischschja Wadim Karetnikow ernannt. Mit der Schulbildung hat er gar nichts zu tun, dafür aber ist er ein aktiver Anhänger der „ruZZischen Welt“. Und im Dorf Kostjantyniwka sind Schulleiterinnen zwei Frauen geworden, die sich bereit erklärten, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Von den Schulfassaden, die in den besetzen Orten stehen, werden von den moskowitern Gedenktafeln entfernt, die den seit 2014 im Krieg gefallenen Absolventen dieser Schulen gewidmet sind. Für sie spielt der berüchtigte Unterschied eine große Rolle, für sie ist es wichtig, wem das Denkmal im Ort steht, wessen Namen die Gedenktafel oder eine Straße trägt. Die moskowiter vernichten alle Marker des Ukrainertums auf den besetzten Territorien.

Außer der „Volksabstimmung“ in Cherson bereiten die raschisten genau solche formelle Volksabstimmung auch in der Kleinstadt Snihuriwka im Mykolajiw Gebiet. Diese Stadt ist vorläufig besetzt, und in Plänen der raschisten ist es, Snihuriwka an die bereits früher besetzte Halbinsel Krim anzuschließen. Die Ukrainer:innen aus den besetzten Orten werden zwanghaft nach moskowien deportiert. Es wurden bereits über 500 Tausend ukrainische Bürger:innen umgesiedelt, einschließlich über 121 Tausend Kinder.

Es gibt auch gute Nachrichten. Erstens, haben wir Flugzeuge aus mitteleuropäischen Ländern bekommen. Zweitens, sind auch schwere Waffen schon unterwegs – sowohl gepanzerte Technik als auch Artillerie. Drittens, sind bei der Waffenübergabe unter dem Motto „Wir sind keine Deutsche“ Niederlande dabei (solche Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind durchaus normal, wenn man einige historische Momente berücksichtigt). In ein paar Wochen wird der Lend-Lease schon im vollen Gange sein.

Eine beinahe epische Geschichte ist folgende: Charkiwer Polizisten haben Porsche Cayenne angehalten, in dem ein Haufen Munition versteckt war: 208 Schusspatronen, 8 Kampfgranaten und 3 Maschinenpistolen.

Das Charkiwer Zirkusstudio „Der alte Zirkus“ nahm am Zirkusfestival in Monte-Carlo teil, mit einem Auftritt, der ukrainischem Militär gewidmet war.

Den heutigen Darwin-Preis bekommen:

zwei Zirkusleute von der Politik: der Bildungsminister, des Plagiats zurecht beschuldigte Serhij Schkarlet und Rektor der Nationalen Luftfahrtuniversität Kyjiw Maksim Lutskyj ließen sich in Irpinj fotografieren, beide in alten ukrainischen Uniformen, wie sie 2014 aktuell waren, beide ihre Waffen falsch haltend.

moskowiter, die Hunderte neue Erklärungen liefern, warum der Raketenkreuzer „Moskwa“ untergegangen ist. Die aktuellste Erklärung lautet: der Kreuzer wurde von allen ukrainischen Luftmitteln angegriffen, konnte sich aber nicht wehren, weil um ihn herum mehrere zivile Schiffe waren, die der Kreuzer quasi beschützte. Auch diese Version ist nicht besonders überzeugend, aber mindestens besser als die, laut der jemand auf dem Kreuzer rauchte und die Munition dadurch detonierte.

Wir glauben an die ukrainischen Streitkräfte! Helfen wir unseren Freiwilligen, unseren Mediziner:innen, Kommunalmitarbeiter:innen und Retter:innen. Bringen wir den Tag unseres Sieges immer näher!

Serhij Petrow

 

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історик, аналітик Інформаційного Центру "Майдан Моніторинг" (сайт "Майдан"), громадський активіст, редактор української Вікіпедії