Charkiw. Chronik des Angriffs auf die Stadt, der 37. Tag (01.04.2022)

Der erste Apriltag war sehr warm. Man konnte schon den Frühlingsatem spüren. Der Tag war ziemlich ruhig.
Aber das war eine relative Ruhe. Tagsüber gab es keinen großen Beschuss, obwohl ab und zu doch mittelstark geschossen wurde, und zwar in mehreren Wellen. Nach der mittlerweile gewöhnlichen Morgenaktivität der moskowiter kam eine kurze Pause in der Mittagszeit. Und am Abend fand ein aktiver Beschuss statt, obwohl es bis dahin still war.


Die „Befreiungsgeschenke“ der moskowiter bekamen wie immer Saltiwka (am stärksten Saltiwka Nord), Welyka Danyliwka und die Zhukowski-Siedlung sowie Oleksijiwka, Horizont und Traktorwerk. Die durch den Beschuss bedingten Brände entstehen manchmal im Nordosten und Südosten der Stadt. Und der Rauch dieser Brände ist aus der Entfernung von einigen Kilometern zu sehen. In Oleksijiwka sind wegen raschistisches Beschusses zwei Personen umgekommen. Beschossen wurden auch die Randgebiete des Maschynobudiwnyky-Parks und des Ortes, der im Volksmunde Artema-Siedlung heißt. Einige Betriebe, die in diesem Stadtteil untergebracht sind, wurden beschossen, unter anderem die Turboatom und ChEMZ.

Während des Raketenangriffes auf das Gebäude der Regionalen Staatsverwaltung, der gerade von einem Monat stattfand, sind 29 Menschen umgekommen – diese Zahl wurde vom Leiter der Charkiwer Regionalen Staatsverwaltung Oleg Sinegubow genannt.
Charkiw samt seinen Vororten verteidigt sich und hält durch. Unser Militär ist auf alle möglichen Szenarios gefasst, auch wenn ein Teil der von Kyjiw zurückgezogenen Truppen bei Charkiw auftaucht.

Die Mitarbeiter der kommunalen Versorgungsunternehmen räumen weiterhin auf, reparieren Leitungen, auch dort, wo jede Minute geschossen werden kann. Explosionen lassen sie kalt. Diese Menschen haben Nerven aus Titanstahl – ich weiß nicht, wie man ihre Ausdauer beschreiben kann… Viele Menschen schließen sich dem freiwilligen Einsatz, besonders dort, wo es ruhiger geworden ist. Letztendlich sind wir nicht gewohnt, im Schweinestall wie die Orcs zu wohnen.

Die Charkiwer Stadtverwaltung verordnete, dass alle Nebenkosten der Stadtbürger bis zum Ende der Kriegszeit abgeschafft sind. Diese Kosten übernimmt die Stadt. Und im Grunde genommen: Wer kann schon sich heutzutage leisten, Nebenkosten zahlen!
Die Stadt wird lebendiger – immer mehr Märkte, Geschäfte und Kiosks funktionieren, sogar die „Kulinitschi“! Dazu kommen Geschäfte mit Haushaltswaren, Kleidung und viele andere. Das Angebot ist gut, obwohl natürlich mit der Auswahl aus der Vorkriegszeit nicht zu vergleichen, aber generell ist es ein riesig großer Fortschritt seit 37 Tagen! In den ersten zwei Wochen war es schwer, selbst die einfachsten Lebensmittel, die man fürs Überleben braucht, zu beschaffen
І Jetzt denkt man aber an diese gesegneten Zeiten mit der Nostalgie zurück. Es ist schwer, diese Gefühle zu beschreiben.

Da Supermärkte und kleinere Geschäfte regelmäßig beliefert werden, gibt es nun dort praktisch keine Warteschlangen mehr. Das betrifft auch die Vororte (natürlich nicht die, die unter ständigem Beschuss stehen). Vor den Apotheken braucht man auch nicht mehr zu warten, weil ziemlich viele schon geöffnet sind, und nicht eine pro Stadtbezirk, wie es in den ersten drei Wochen war. Das Angebot ist in den Apotheken recht gut, zumindest die populärsten Medikamente sind alle vorhanden. Aber es fehlt noch an vielen Sachen.

Mit den Vorstadtbezirken, die ständig beschossen werden, ist die Situation sehr kompliziert. Viele Geschäfte und Einkaufszentren sind beschädigt, häufig gibt es keinen Strom. In Saltiwka Nord, einem Teil der Wohnviertel Saltiwka und Horizont, die den meisten Beschuss abgekriegt haben, gibt es überhaupt keine Geschäfte, stattdessen sind nur zerstörte oder verbrannte Läden und komplett ausgebrannte Märkte zu sehen. Da gibt es nicht mal eine Verteilungsstelle für Hilfsgüter, weil die Beschussgefahr viel zu hoch ist. Die Menschen leben dort ohne Strom, ohne Gas; häufig fehlt sogar beides. Aber dort, in den Kellern, halten sich noch kleine Gruppen auf. Viele überleben nur dank den Freiwilligen, die sie mit dem Essen versorgen. Aber diese Menschen weigern sich, ihre Keller zu verlassen. Bei manchen bewirkte ständiger Aufenthalt im Keller tatsächlich psychische Störungen: Manchmal wollen die Menschen nicht mehr aus dem Keller raus, obwohl die Gefahr jetzt viel geringer ist, als in den ersten zwei Wochen! Was man da tun soll, weiß ich nicht.

Man lernte den Unterschied zwischen Minen, Granaten und Raketenartillerie zu erkennen. Nicht, dass diese Erfahrung für einen Zivilisten gut ist, aber es ist, wie es ist. Wenn man ständig Orte sieht, wo durch moskowitischen Beschuss Menschen umgekommen sind, ist das allgemeine Hass-Level sehr hoch.

Beschossen wurden auch Derhatschi und die dazugehörende Gemeinde. Dort gibt es ständig Beschuss, eigentlich täglich. Das gleiche gilt auch für die Umgebung von Tschuhujew und Petschenihy, wo Gärten und Häuser stark beschädigt sind.

Es ist ein Kontrast im Vergleich zu dem, was man in den Stadtteilen vorfindet, wo kein Beschuss war. Ein absolut friedliches und reines Leben! Heute konnte ich nicht mehr aushalten, und kaufte mir einen Cider – das erste nicht ganz alkoholfreie Getränk seit dem Angriff auf Charkiw.

Die Stadt Isjum haben die moskowiter leider mit Hilfe der Verräter aus der Partei „Oppositionsplattform für das Leben“ eingenommen. In Vororten gibt es aber immer noch Kämpfe, unsere Militärs halten die Abwehr. Die moskowiter versuchen Isjum an den Flanken zu umgehen, auf diese Weise wollen sie nach Slowjansk vorstoßen. Um beträchtliche Opfer zu vermeiden, wenn die raschisten nach Slowjansk auch von der anderen Seite anrücken werden, wird in Barwinkowe und in den umliegenden Dörfern die Evakuierung der Menschen fortgesetzt. Das ist ein richtiger Schritt.


Da infolge des Beschusses, der Raketen- und Luftanschläge alle Gebäude der Karasin-Universität beschädigt sind, wird die Universität vorläufig in eine andere Stadt der Ukraine verlegt. So ist die Realität…

Nach Angaben der Polizei kamen während 37 Tage im Charkiwer Gebiet an Handlungen der raschisten 394 Personen ums Leben, darunter 21 Kind (in dieser Zahl wird wohl die Information aus den vorläufig durch die moskowiter besetzten Territorien nicht berücksichtigt).


Um Rubischne wird weiter gekämpft, um Rubischne und entlang der ganzen Linie der Operation der Vereinten Kräfte, die ihre Umrisse im Norden des Donetsk Gebiets behalten hat. Bisher gab es keine aktiven Angriffshandlungen, weil der Russenpöbel auf die Verstärkung jener Teile wartet, die von der nördlichen und östlichen Kyjiwer Richtung zurücktreten. Gleichzeitig werden nicht alle Truppen abgeführt und die Kämpfe bei Kyjiw dauern weiter, obwohl unser Militär bereits Butscha zurückerobert hat und Hostomel eingenommen (das Foto des verbrannten Flugzeugs AH-225 „Mrija“ ist sehr traurig). Genauso dauern Kämpfe auch im Tschernihiw Gebiet und im Nordosten des Kyjiwer Gebiets. Das heißt der moskowitische „Abgang“ fällt uns nicht leicht. Erfolge gibt es im Chersongebiet und im Zaporischschja Gebiet.

Und die Reaktion der moskowiter auf die Rückführung der Truppen von Kyjiw ist Trauer – eine Akzeptanzphase. Dabei haben sie noch gestern das nicht akzeptieren wollen und waren wütend. Die Änderung trat schnell ein.

In Bjelgorod Gebiet (oder, wie Oleksij Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats sagte: in Bjelgoroder Volksrepublik) ist unruhig. Am Morgen haben die moskowitischen Helikopter das Öldepot bei Bjelgorod zerbombt; und später, nach den Angaben der OSINT-Methoden, haben die russen das eigene Feld bei Bjelgorod beschossen – etwas kam von der ukrainischen Grenze angeflogen und nicht aus der Ukraine. Natürlich wurde in beiden Fällen die Ukraine beschuldigt. Unsere Beamten behaupten, dass alles, was drüben in russland stattfindet, in Verantwortung der dortigen Macht ist. Am Morgen herrschte in Bjelgorod Panik – es bildeten sich lange Warteschlangen vor den Tankstellen, und der Gebietsverwalter des Bjelgoroder Gebiets hat die Menschen so aktiv beruhigt, dass er den Standort des anderen Öldepots, die Stadt Gubkin genannt hat. Das merken wir uns, für die Zukunft.

Das alles ist natürlich als Wirkung auf moskowiter gedacht, damit über eine verdeckte Einberufung Ressourcen für weitere Kämpfe zusammengekratzt werden können. Aber in einem Land, wo über 80 % der Bevölkerung die Vernichtung der Ukraine und die Tötung der Ukrainer befürwortet, kann das einen ganz anderen Effekt haben: wenn man Kyjiws Eroberung in drei Tagen versprochen bekommen hat und stattdessen in deiner Nähe immer wieder etwas explodiert, bekommt einer Angst. Das ist nicht das, was auf Kaschyrskoje Chaussee und in Wolgograd war, als die Meinung der moskowiter über die Notwendigkeit des zweiten tschetschenischen Kriegs gebildet wurde. Das wird einen anderen Effekt haben, nämlich Panik. Die Psychologie der erobernder Bevölkerung und die der Bevölkerung, die ihre Erde verteidigt, ist grundunterschiedlich. Unterschiedlich ist die Psychologie der moskowiter und die unsere. Angst und Panik, der Versuch, sich vor dem Krieg und der verdeckten Einberufung zu verstecken: Heute spürt man das noch nicht, aber in Kürze kommt das alles mit Sicherheit.

Eine korrekte Analogie aus der Vergangenheit zu finden ist nicht leicht, wir leben ja in Internet-Ära, außerdem sind die heutigen Umstände ganz anders als die, die es im Ersten bzw. im Zweiten Weltkrieg gab. Dabei wären Analogien sehr angebracht.

In Poltawa bekommt man in O-Bussen Fahrscheine mit der Aufschrift: „Charkiw ist eine heldenhafte Stadt“. Liebe Poltawer, haben Sie einen schönen Dank für diese moralische Unterstützung! Ihre Hilfe im Hinterland ist für die Einwohner Charkiws unschätzbar!

Heute gibt es einen neuen Preis, den Anerkennungspreis, den bekommt der amerikanische Schauspieler Sean Penn, der die reichsten Menschen der Welt aufgerufen hat, für die Ukraine Jagdbomber F-15/F-16 und Flabs für 500 Mio. Dollar zu kaufen. Ein so starker Vorschlag, so wunderbare Idee! Ein hervorragender Aufruf, einem Land, das die zivilisierte Welt vor der moskowitischen Horde beschützt, zu helfen!


Zum Abschluss Information über den Darwin-Preis, den bekommt heute die Bemannung einer raschistischen Flugabwehrrakete, die friendly fire eröffnete und das eigene Flugzeug zerschmetterte. Das ist natürlich mit der Erschießung der eigenen Positionen aus dem Hubschrauber nicht zu vergleichen, aber Munitionsverbrauch und Technikverlust sind auch kein schlechtes Ergebnis. Diese Information hat uns die britische Aufklärung besorgt.

Glauben wir an unsere Verteidiger und unterstützen wir sie. Helfen wir den Menschen, die das Funktionieren unserer Städte gewährleisten, unser Militär und uns in Krankenhäusern behandeln, die freiwillige Hilfe leisten. Unterstützen wir psychologisch einander. Der Sieg wir unser sein, denn mit uns ist die Wahrheit und die Kraft!

Serhij Petrow

Das Bild: Hauptverwaltung des Staatsdienstes der Ukraine für außerordentliche Situationen in Charkiwer Gebiet, CC BY 4.0.

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історик, аналітик Інформаційного Центру "Майдан Моніторинг" (сайт "Майдан"), громадський активіст, редактор української Вікіпедії