Charkiw. Chronik des Angriffs auf die Stadt, der 35. Tag (30.03.2022)

Nach einigen Tagen relativer Beruhigung gab es heute einen viel aktiveren Beschuss.

Am Morgen aktivisierten die moskowiter ihren Beschuss, der bis zum frühen Nachmittag dauerte. Mit Antreten der Dämmerung wurde der Beschuss immer intensiver, bis die raschisten am Abend endgültig zu toben begannen: sie schießen jetzt mit allen Waffen, hauptsächlich mit Raketenwerfern. Das nördliche Saltiwka sowie andere Saltiwka-Teile leiden besonders darunter, auch Horizont, Charkiwer Traktorenwerk, Neue Häuser, Oleksijiwka. Auch gegen Stadtteil Cholodna Hora wurde gefeuert. In Saltiwka wurde etwas Solides getroffen, denn der Brand dermaßen intensiv ist, dass der Feuerschein davon von unterschiedlichen Stadtteilen aus gut sichtbar ist.

Einer der Supermärkte im Stadtteil Saltiwka. Bildautorin: Natalia Subar, Lizenz CC BY-SA 4.0.
Einer der Supermärkte im Stadtteil Saltiwka. Bildautorin: Natalia Subar, Lizenz CC BY-SA 4.0.

 

Auch in der Vorstadtzone gab es Beschuss – gegen die Stadt Derhatschi und Nachbardörfer, Tschuhujiw und die Umgebung. In Derhatschi wurde das Gebäude des Stadtrats zerstört, die Hochleitung und Umspannwerke sind beschädigt, es gibt Treffer in die Wohnhäuser, als Folge brennt es an einigen Stellen. Ein Mensch kam ums Leben, es gibt Verwundete, nach den Angaben sind es mindestens drei Personen. Derhatschi wurde auch am Abend stark beschossen. In Tschuhujiw ist ebenso unruhig.

Dabei demonstrieren die moskowiter nicht die Bodenaktivität, sie befeuern die Wohnorte mit dem Ziel, Wohnhäuser und die ganze Infrastruktur total zu vernichten. Unser Team, das die moskowitischen Verbrechen fixiert, ist zur Überzeugung gekommen, dass raschisten folgende wichtige Zielobjekte im Visier haben:

jegliche wichtige Verwaltungsgebäude;

Treibstoffdepots, Tankstellen und jegliche Lagereinrichrungen, um uns die Möglichkeit zu nehmen, unsere Militärausrüstung und andere Logistik sowohl für die Front als auch im Hinterland zu tanken;

Feuerwachen und Polizeiabteilungen, um Hilfe für die Bevölkerung unmöglich zu machen;

Lebenserhaltungssysteme: Elektrizität, Gasleitungen, Verteilerstationen, Umspannwerke, Versorgungslinien;

Kommunikation (Mobil und Festnetz, Internet);

Abgabepunkte für die humanitäre Hilfe;

Supermärkte und Märkte in den beschossenen Stadtteilen;

jegliche Bildunsstätten, die als Luftschutzbunker benutzt werden können, um das Territorium in der Zukunft zu deurbanisieren (wo es keine Bildung gibt, gibt es auch keine Familien mit Kindern);

Entbindungskliniken und Krankenhäuser;

Verkehrsnetze und –depots;

Wohnhäuser werden chaotisch beschossen, um maximale Schäden zu bringen.

Auf dem Land befeuern die moskowiter die wichtigsten Agrareinrichtungen und Standorte der landwirtschaftlichen Technik. Ihr Ziel ist es, die Landwirtschaft zu vernichten und bei uns die Hungersnot zu organisieren, um nach der Erschöpfung der Ukraine das Land zu erobern. Es kommt wohl die schwierigste Aussaatszeit auf uns zu und die schwierigsten zwei Jahre, wenn man die Schäden für die Landwirtschaft, die Anzahl der verminten Äcker und ähnliches in Betracht zieht.

Gleichzeitig werden die soeben befreiten Orte geräumt und entmint. Bei Charkiw wurden ein Kampfjäger und eine Drohne der moskowiter abgeschossen. Außerdem wurden im Gebiet Charkiw zwei weitere Flugzeuge abgeschossen. Das Militär ermahnt die Zivilbevölkerung, keine Fahrten von Tschuhujiw nach Charkiw und zurück zu unternehmen, weil es dort eine reale Gefahr wegen der minierten Straßen gibt. So trafen heute auf dieser Strecke einige Autos auf Minen, infolge dessen kamen zwei Personen uns Leben, fünf Personen, darunter ein Kind, sind verwundet. Die moskowiter verminen die zurückgelassenen Territorien sehr dicht. Leider werden wir noch mehrere Jahre nach dem Sieg solche „Geschenke“ finden müssen, und auf den ungetesteten Wegen werden Menschen in die Luft gesprengt. Man wird gezwungen eigener Sicherheit halber gemütliche Waldspaziergänge für gute zehn Jahre vergessen. Und das betrifft nicht nur Charkiw, sondern alle Gegenden, die jetzt allmählich von den Besatzern befreit werden.

Allmählich erneuern unterschiedliche Serviceeinrichtungen in Charkiw ihre Arbeit. Gestern und heute hat man in der militärischen Gebietsverwaltung über den Neustart der Wirtschaft im Gebiet und in der Stadt beraten. Es gibt einige logistische Probleme. Ohne öffentlichen Nahverkehr können Unternehmen nicht wirklich funktionieren. Andererseits können Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs nächste Beschussziele der Besatzer werden. Das bedeutet, dass es zu gefährlich sein kann, Verkehrsmittel in die meist besiedelten Hochhausviertel einzusetzen, weil gerade diese Viertel unter Beschuss stehen. Deshalb bleibt die Frage offen, wie die Menschen zu ihrem Arbeitsplatz und dann wieder heim kommen würden. Über das U-Bahn-Problem habe ich bereits geschrieben, das U-Bahn-Depot befindet sich in der betroffenen Zone. So bin ich grundsätzlich nicht gegen den städtischen Nahverkehr, momentan aber kann diese Lösung sehr viele Gefahren mitbringen. Die Bewohner des Stadtzentrums befinden sich in relativer Sicherheit und gerade sie sind diejenigen, die sich für die Erneuerung der Verkehrslinien und Stadteinrichtungen aussprechen. Was die Stadtviertel unter Beschuss und derer Einwohner anbetrifft, da bin ich mir nicht sicher, da zweifle ich sehr an solchen Lösungen. Insbesondere nach dem durchaus lauten heutigen Abend.

Und noch eines zur Wirtschaft: mehrere Leute haben die Stadt verlassen. Unter solchen Bedingungen wird es sehr schwer die Unternehmen neu zu starten. Man muss ja nach neuen Mitarbeiter:innen, nach neuen logistischen Verbindungen suchen. Das ist eine Herausforderung für das Wirtschaftsleben in Charkiw.

Die Stadt Isjum bleibt der Ort, wo es besonders heiße Kämpfe gibt und die Situation am schwierigsten ist. Es ist bekannt geworden, dass einer der Verräter, das Mitglied der proraschistischen Partei „Oppositionsplattform für das Leben“ Anatolij Fomitschewskij den moskowitern geholfen hat, die Stadt auf einem für sie sicheren Weg zu betreten.

Infolge des Beschusses der Siedlung Slobozhanske, die zur Stadtgemeinde Balaklija gehört, sind eine Frau und ihr Kind ums Leben gekommen. Die Stadt Barwinkowe und andere Siedlungen der Stadtgemeinde Barwinkowe werden weiter beschossen. Am linken Ufer des Flusses Donetz führen die Streitkräfte der Ukraine harte Kämpfe, die auf Blokade der Barwinkowe-Richtung für raschisten gezielt sind. Und nicht nur darauf.

Es ist bereits offensichtlich, dass die von Kyjiw abziehenden raschistischen Militäreinheiten in die Isjum-Richtung nach Rubizhne – Sjewerodonetsk und in andere Offensiverichtungen im Donetzk Gebiet verlegt werden. Alle Durchbruchsvesuche der russen wurden von ukrainischen Streitkräften blockiert. Es ist aber auch offensichtlich, dass es, nachdem die moskowiter eine Verstärkung zusammengekratzt haben, kommt es noch unbedingt zu einigen Stürmen der Stadt.

Der Beschuss von Rubizhne, Sjewerodonetsk und Lysytschansk nimmt zu. Auch dort ist die Lage sehr schwierig. Außerdem gibt es Treffer in das Öldepot in Dnipro, sowie auf ein Unternehmen in Nowomoskowsk.

Moskowiter verfügen über Listen der proukrainischen Aktivist:innen, wo auch die Wohnadressen der Menschen angeführt sind. Und in einigen besetzten Städten werden die auf der Liste angezeigten Adressen wirklich aufgesucht, und nicht einfach Menschen auf der Straße festgenommen, wie es bisher war. Auf den Listen stehen die Namen nicht nur von bekannten Aktivist:innen, sondern auch von Menschen, die man in letzten Jahren in Protesten gesehen hat. Ich kann dies als eine Art „neurussische Kriegsgerichte“ betrachten: die Aktivist:innenlisten wurden ja von Verräter:innen zusammengestellt.

Die moskowiter interpretieren die Fronterfolge unserer Streitkräfte offiziell so, dass sie über „Nazis“ sprechen, die Kyjiw und Umgebung sowie Charkiw vernichteten und die zivile Bevölkerung mit „Todesschwadronen“ in Angst halten und erschießen. In moskowien selbst kann man von mehreren Machthabern auf dem Gebietsniveau die Aufrufe hören, man solle so lange kämpfen, bis die Ukraine komplett besiegt wäre.

Man erfährt immer mehr schreckliche Geschichten über Morde an zivilen Menschen, Vergewaltigungen in ganzer Ukraine. Das Blut erstarrt in Adern von all dem Horror sogar bei mir, der ich nicht zu empatisch und eher rationell bin. Wir werden uns für jedes gebrochene Schicksal, jeden getöteten Menschen, jedes zerstörte Haus rächen.

Im besetzter Balaklija des Charkiwer Gebiets versuchte ein Junge die raschistische Trikolore vom Fahnenmast über dem Stadtrat wegzubringen. Die moskowiter feuerten auf den Jungen mit den MGs. Der Junge soll lebendig geblieben sein, aber sein weiteres Schicksal ist uns noch unbekannt. Seine Tat ist jedenfalls heldenhaft und sehr mutig!

Es ist bereits ein voller Tag vergangen, und die moskowitischsprachige Wikipedia ist für moskowien immer noch nicht blockiert. Keiner hat die Absicht den Wiki-Beitrag über den moskowitischen Angriff auf die Ukraine zu korrigieren. Also doch kein Mut zur Blockierung der Wikipedia mit falschen Informationen, ja?

Der heutige Darwin-Preis geht an die moskowiter in Bjelgorod und Kursk. Die haben so erschrocken auf den ukrainischen Gegenangriff auf ihr Territorium reagiert, dass die Gebietsverwaltung in Kursk heute eine Ankündigung machte, es werde heute keine Flugangriffe und keinen Beschuss mehr geben und man solle Ruhe bewahren. Auch seien angeblich die Verwaltungsgebäude, Gerichte und Medienbüros in Bjelgorod miniert und man habe sogar irgendwo einen minenähnlichen Gegenstand entdeckt, obwohl es nicht sichere Information wäre. Was für Angstausbruch!

Helfen wir unserem Militär in den ukrainischen Streitkräften, unterstützen wir Freiwillige, Mediziner:innen. Retter- und Kommunaldienste. Kümmern wir uns umeinander und bringen wir den Tag unseres Sieges immer näher!

Serhij Petrow

 

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історик, аналітик Інформаційного Центру "Майдан Моніторинг" (сайт "Майдан"), громадський активіст, редактор української Вікіпедії